Pressemeldungen – Mit feinsten Speisen in die Fettleibigkeit?
Publiziert von: Redaktion Topfgucker-TV
Kategorie: Pressemeldungen
Veröffentlicht: 30.07.2024
Genuss mit Nebenwirkungen
Mit feinsten Speisen in die Fettleibigkeit?
Restauranttester essen bei den besten Köchen und Köchinnen der Welt und werden dafür auch noch bezahlt. Ein echter Traumberuf? Gerade hat Pete Wells von der "New York Times" seinen Job hingeschmissen, auf Anraten seines Arztes. Seitdem frage ich mich, wie ungesund es ist, endlos zu essen.
Neulich war ich für meine Arbeit mal zu Mittag essen. Es war ein warmer Frühsommertag in Marseille. Ich war zu Besuch bei Alexandre Mazzia. Der war mal Basketballprofi in Frankreich. Und entschied dann, dass er lieber Koch wäre. Er war ein guter Sportler - und dann ein noch besserer Koch. Die drei Sterne erkochte er sich in nicht einmal fünf Jahren. Gerade kocht er für die Olympioniken in Paris, auf Anweisung von Präsident Emmanuel Macron.
Zum Mittag in seinem sehr schönen Lokal im Marseiller Osten gab es 26 Gänge. Ohne Quatsch. 26 kleine Teller voller Preziosen. Rasiermessermuscheln, Heilbutt, Steak, Bohnen mit Harissa, mindestens sechs Desserts. Ich wiederhole: 26 Gänge. Voller Aromen, Gewürze und Unwiderstehlichkeiten. Weinbegleitung inklusive, versteht sich. Um 16.30 Uhr kamen wir sehr glücklich und sehr betrunken aus seinem Restaurant. Ah, und: Sehr satt.
Aber leider endete da nicht der Tag mit einem Jogginglauf in den provenzalischen Calanques. Nein, denn um 20 Uhr stand das nächste Restaurant an. Acht Gänge plus Wein. Denn schließlich war das eine Arbeitsreise und kein Vergnügungsurlaub. Kann das gesund sein?
Pete Wells gibt auf
Wenn ich Freunden von meinem zweiten Beruf erzähle, sagen die: Wow, Du gehst schick essen und wirst dafür auch noch bezahlt - das ist doch ein Traum, oder?
Und es stimmt ja auch: Ich darf die schönsten Restaurants der Welt besuchen, süße Bistros in Paris und hippe Fine-Dining-Adressen in Athen. Im Winter war ich im Disfrutar, dem derzeit angesagtesten Restaurant der Welt in Barcelona, letzte Woche im Le Bernardin in New York, keiner kann Fisch besser zubereiten als Eric Ripert, der Koch des Gourmettempels. Wer hier und dort einen Tisch will, der muss oft Monate warten und dann noch ein halbes Vermögen für einen Abend opfern. Aber ich kriege immer einen Tisch - und jeder dieser Besuche ist steuerlich absetzbar und ich bekomme sogar noch Geld dafür, weil ich darüber schreibe. Ist es also ein Traumberuf?
Pete Wells sagt: Jein. Wells ist einer der berühmtesten Restaurantkritiker der Welt, testete für die "New York Times" die besten Restaurants im Big Apple. Aber eigentlich muss ich sagen: Er war der berühmteste Restaurantkritiker der Welt. Weil er sich nach einer Leistenoperation einem medizinischen Check-Up unterzog und sein Arzt nach einem Blick aufs Blutbild feststellte: So geht es nicht weiter. Wells' Werte waren dramatisch: Beginnende Fettleber, Vorstufe zur Diabetes, Cholesterin im roten Bereich und ein amerikaüblicher Body-Maß-Index von Viel-zu-Viel-auf-der-Waage.
So entschied der Kritiker, Messer und Gabel an den Nagel zu hängen - weil er gerne älter werden wollte als die 61 Jahre, die er heute zählt. Und Wells ist keineswegs der Einzige, der an seinem Traumberuf - nun ja - wächst - und zwar nicht im Guten. Denn wer diese Aufgabe richtig und passioniert ausfüllen möchte, der isst viel, es geht gar nicht anders.
Drei Mittag- und fünf Abendessen
Auf Recherchereisen für große Reportagen besuche ich in fünf Tagen mindestens acht Restaurants, Bistros, Brasserien. Das macht drei Mittagessen und fünf Abendessen - mit zumeist mehrgängigen Menüs. Manchmal sind es nur vier Gänge, in Titel Frankreich meistens aber sieben oder mehr, Amuse Bouche und die kleinen Petit Fours zum Schluss nicht mitgerechnet.
Eine goldene Kritiker-Regel sagt auch: Ich bestelle nicht das, was ich mag, sondern ich wähle einen Querschnitt durch die Karte, um - fernab von meinen Vorlieben - wirklich die gesamte Küchenkunst kennenlernen zu können - und zu prüfen, wie präzise, frisch und gut dieser oder jener Koch wirklich arbeitet.
In vielen Fällen besuche ich Restaurants ohne Vorankündigung. Manchmal aber reise ich auch mit meinem Fotografen, dann überlegen sich die Köche noch besondere und zusätzliche Gänge, um dem Kritiker ihre Philosophie und die Signature-Gerichte vorzuführen. Das macht die Menüs noch größer und obendrein kalorischer und süffiger als ohnehin schon. Und Wein gibt es noch obendrauf, nicht nur aus purem Lustgewinn, sondern auch um den Zusammenhang zwischen den Aromen im Essen und der Weinbegleitung zu testen.
Das sind dann automatisch deutlich mehr als die 2400 Kalorien, die ein über 40-jähriger Mann am Tage zu sich nehmen sollte - sehr viel mehr. Und in jedem Fall auch mehr als das eine Glas Wein pro Tag, das die Europäische Gesellschaft für Kardiologie als weitgehend unschädlich bewertet.
"Non, merci"
Es sind aber nicht nur die schlichten Mengen, die den Kritiker-Körpern zusetzen. Es ist auch die Vielzahl an Aromen und Gewürzen, an Kräutern und Zubereitungsarten. Schließlich wird im Fine-Dining und in der Sterneköche allgemein jedes Gericht nicht einfach nur gekocht. Es wird fermentiert und mit Zusatzstoffen gearbeitet, gerade in der Molekularküche. Die meisten Stücke Fleisch und Fisch werden nicht auf den Grill geworfen, sondern sous-vide gegart und abgekühlt, um sie dann wieder aufzuwärmen und zu grillen, es sind unzählige Produktionsschritte und jedes verfeinert das Essen, macht es damit aber nicht unbedingt bekömmlicher... (zum ganzen Beitrag)
Zehn Kilo und unvergessene Genüsse
Mein Glück ist außerdem, dass ich "nur" Teilzeit-Tester bin und die Restaurants und Bistros ja neben meiner Arbeit als Schriftsteller nur eine Woche pro Monat teste. So bleibt genug Zeit fürs gesunde Kochen daheim oder für das einfache Sauerteigbrot mit altem Comté, das zwar auch nicht gänzlich kalorienarm ist, dafür aber an Einfachheit und Glücksgefühlen unübertroffen.
Und dennoch: Wenn ich mit selbstkritischem Blick auf meine heutige Figur schaue und sie mit Fotos aus meinen Vor-Kritiker-Tagen vergleiche, dann würde ich sagen: Zehn Kilo sind es schon, die in den vergangenen fünf Jahren dazugekommen sind und sicher der eine oder andere Morgen mit schwerem Kopf und schwerem Bauch, an dem ich mich gefragt habe, ob all die Völlerei des Vorabends sein musste.
Andererseits: Es sind neben den Kilos auch unzählige schöne Augenblicke dazugekommen, Gerichte, die mir für immer im Gedächtnis bleiben werden wie der Chicorée mit Salzzitrone von Sternekoch Alexander Mayer oder die rohe Flunder mit Kapern von ebenjenem Éric Ripert im New Yorker Le Bernardin. Begegnungen mit Köchinnen und Köchen, die so viel Leidenschaft in sich tragen und wahre Künstler sind wie Elena Arzak in San Sébastián oder Fabian Feldmann in Biarritz. Und deshalb bleibt es für mich dabei: Ich teste sehr gern und ich teste auch weiterhin im Sinne des guten Geschmacks, denn Nebenwirkungen hat eben auch der schönste Beruf.
Foto: Markus Bassler
Quelle: ntv.de
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